Die Gründerzeit

Bei dem Begriff Gründerzeit handelt es sich eigentlich um die Bezeichnung für eine günstige wirtschaftliche Entwicklung in Deutschland und Österreich. Die architektonische Stilrichtung Gründerzeit ist eine Begleiterscheinung dieser wirtschaftlichen Blütezeit.

In Österreich begann diese Phase der Firmengründungen vor dem Hintergrund der Industrialisierung bereits um 1850. In Deutschland setzte der Aufschwung erst nach dem deutsch-französischen Krieg 1870/71 ein. Die aus dem Krieg nach Deutschland fließenden Reparationszahlungen von über 4 Milliarden Mark wurden dafür genutzt, den wirtschaftlichen Aufschwung zu beschleunigen und die Rückstände der Industrialisierung gegenüber anderen Staaten aufzuholen. Das rasante Wachstum endete durch die entstandenen Überkapazitäten jeweils in einem Börsencrash, der gefolgt wurde von zahlreichen Firmenpleiten.

Als Folge daraus griff der Staat beispielsweise durch Zölle stärker in die Wirtschaft ein. Die Lebenshaltungskosten stiegen in dieser Zeit um 80 %. Das wirtschaftliche Wachstum verlief aber nach den steuernden Maßnahmen von Staat und Firmen 1879 positiv. Diese Phase endete mit dem ersten Weltkrieg.

Die Stilrichtung "Gründerzeit"

Die vielen Fabriken und anderen Betriebe in den Ballungszentren lockten viele Menschen vom Land in die Stadt. Um Wohnraum zu schaffen, entstanden ab 1870 schnell die für die Gründerzeit so typischen vier- bis fünfstöckigen Mietskasernen, die oft mehrere Neben- und Hinterhäuser mit engen, dunklen Höfen hatten. Viele deutsche Städte haben heute noch ganze Straßenzüge oder sogar Bezirke, die in diesem Stil errichtet sind. Erwähnenswert ist hier die Südstadt von Bonn mit dem größten zusammenhängenden Gründerzeitviertel in Deutschland.

Die Fassaden der Vorderhäuser waren reich verziert, wobei mit Vorliebe auf Stilelemente von Gotik, Renaissance und Barock zurückgegriffen wurde. Die Fassaden repräsentierten nicht nur den allgemeinen Wohlstand, sondern zeigten auch den sozialen Status ihrer Bewohner. Das Hochparterre bzw. die erste Etage war äußerlich besonders schön geschmückt und hatte besonders hohe Räume mit wundervollen, stuckverzierten Decken. Diese Etage war dem wohlhabenden Bürgertum vorbehalten.

Je höher die Wohnung danach lag, desto weniger aufwändig war sie gestaltet und desto niedriger standen die Bewohner im sozialen Gefüge. Die 5. Etage hatte oft nur lukenartige Fenster und wurde von Dienstboten oder Arbeitern bewohnt. In den Neben- und Hinterhäusern lebten in kleinen Einraumwohnungen die Arbeiterfamilien unter katastrophalen Bedingungen. Die überfüllten Räume waren schlecht belüftet, dunkel und durch die Nähe zum im engen Hof liegenden Müll sehr unhygienisch. Aus finanziellen Gründen beherbergten viele Familien noch alleinstehende Arbeiter als Schlafgäste bei sich - diese nutzten die Betten der Familie, wenn die Familie bei der Arbeit war.

Die Leitbilder der Gründerzeitarchitektur - möglichst viele Menschen auf wenig Fläche unterzubringen - beeinflussten noch bis in die 60er Jahre des 20. Jahrhunderts die Städteplaner, was sich beispielsweise in der Entstehung der Trabantenstädte zeigte. Die Kritik an den Wohnverhältnissen hinter der schönen Fassade sowie eine allgemeine Hinkehr zur Sachlichkeit und Funktionalität in der Bauhaus-Bewegung und den nachfolgenden Jahren führte in vielen Städten zu einem Abriss der Gründerzeit-Wohnblöcke, die dann durch reihenweise Bebauung mit mehr Licht ersetzt wurden. In einigen Städten beschränkte man den Abriss auf Seitengebäude und/oder die zweiten Hinterhäuser, um mehr Licht zu gewinnen. Viele Fassaden fielen der neuen Sachlichkeit zum Opfer und wurden nach Entfernung der Ornamente verklinkert.

Erst am Ende der 70er Jahre wurden die dann noch erhaltenen alten Gebäude unter Denkmalschutz gestellt. Heute sind Gründerzeitwohnungen wieder sehr beliebt, weil im Verhältnis zu den moderneren "Arbeiterbauten" aus heutiger Sicht die breiten Straßen und nur geringen Geschosszahlen fast luxuriös sind.



Die Puppenstube der Gründerzeit

Vom allgemeinen industriellen Aufschwung wurde auch die Spielwarenindustrie mitgerissen. Der Markt wurde überschwemmt von einer großen Flut von Gründerzeitmöbeln, die, wie ihre großen Vorbilder, der jeweils modischen klassischen Stilrichtung folgten oder das ebenfalls von den echten Möbeln bekannte Stilgemisch zeigten.

Obwohl industriell gefertigt, bestachen viele Möbel durch ihre solide Verarbeitung aus Massivholz und wiesen viele gedrechselte, geschnitzte und mit Durchbruchornamentik und Metallbeschlägen verzierte Teile auf. Adler und Löwe waren Ausdruck von Macht und Geld und wurden auch in der Ornamentik der Möbel gerne verwendet.

Die Möbel zeigten beispielsweise oft Löwenfüße, die auch bei den Puppenmöbeln ausgearbeitet wurden. Viele Möbel wurden als Set auf einem Karton "festgenäht" angeboten. Zu den klassischen Möbeln der Biedermeierstube, die nur stilistisch angepasst wurden, kommt der "Trumeau", ein Standspiegel mit Konsole.

Ebenfalls neu und typisch für die Gründerzeitmöblierung sind Fransen, Quasten und andere textile Verzierungen an Möbelkanten und Säumen von Vorhängen. Auch der gehäkelte Sofaschoner (ohne jeden praktischen Nutzen) entstammt dieser Zeit. Das gesamte Haus wird mit bestickten Tüchern verziert. Schwerpunkt ihrer Verwendung ist die Küche, die mit den vielen Küchentextilien ein weites Betätigungsfeld bietet.

Möbel dieser Zeit erkennt man häufig an den folgenden Elementen:

+ gedrechselte Säulen, oft mit klassischem Säulenabschluss,

+ große Abschlusskrone auf den Möbeln, die geschwungen und ebenfalls mit klassischen Stilelementen verziert ist,

+ Balustraden an Möbeln,

+ geschwungene Möbelbeine, die in einem sich verdickenden Fuß enden.

Im Wohnraum darf die Büste einer bekannten Persönlichkeit nicht fehlen. Neben den Puppenstuben in klassischen Stilrichtungen ist die altdeutsche Einrichtung in dieser Zeit sehr beliebt. Eine den Vorstellungen vom Mittelalter entsprechende Möblierung aus dunklem (Eichen-)Holz mit Durchbruchornamentik, mit Butzenfenstern und Gebrauchsgegenständen aus Ton setzt sich durch. Dunkle Tapeten, dunkle Wandpaneele und Fußböden, dunkle Möbel und dunkle Stoffe gelten als gemütlich.

Die Gehäuse werden leer oder komplett möbliert angeboten. Das Küchengehäuse ist sehr häufig trapezförmig und hat fast immer einen im Fliesenmuster beklebten oder bemalten Boden. Die übrigen Gehäuse haben meistens einen rechteckigen Grundriss. Ihre Seitenwände sind relativ hoch im Vergleich zur Gehäusebreite, aber auch im Vergleich zur passenden Möblierung.